Ekel – unser mentales Immunsystem

Ekelgefühle können äußerst intensiv sein.
Das Ekelempfinden schützt uns primär vor ungenießbarer Nahrung und fiesen Krankheitserregern – aber auch moralische Grenzverletzungen empfinden Menschen häufig abstoßend. Letztlich, so meinen einige Emotionsforscher, ist Ekel der emotionale Protest gegen die eigene Sterblichkeit.
Sie beißen in eine gegrillte Heuschrecke. – Sie werden von einer Person mit starkem Mundgeruch angesprochen. – Sie gehen durch eine Bahnunterführung und riechen Urin. – Sie fahren in einem Leichenwagen mit.
Wenn Psychologen messen wollen, wie ekelempfindlich jemand ist, kann es ungemütlich werden. Sie offerieren ihren Probanden dazu allerlei potenziell scheußliche Dinge – wahlweise direkt, als Bild oder als Situation, die sie sich vorstellen sollen: Erbrochenes, Blut, haarige Spinnen, Würmer, Schweiß, fettige Haare, Klobrillen, Oralsex, Leichen und ähnliches. Ein recht unappetitliches Potpourri – für die einen mehr, für die anderen weniger.
Dass sich jemand ekelt, kann man häufig an seinem Gesichtsausdruck ablesen. Charakteristisch sind: eine gerümpfte Nase, eine hochgezogene Oberlippe und ein (leicht) geöffneter Mund, manchmal auch das Herausstrecken der Zunge. Es gibt offenbar eine ekeltypische Mimik, die Psychologen in vielen Kulturen weltweit beobachten konnten. Was jemand abstoßend findet und wie stark ist aber von Person zu Person unterschiedlich und wird durch die Kultur mitbestimmt, in der man aufwächst.
Formen von Ekel
Schaut man genauer hin, lassen sich folgende Formen von Ekel unterscheiden:
- Ekel vor bestimmter Nahrung – verdorbene Lebensmittel oder solche, die in der jeweiligen Kultur üblicherweise nicht gegessen werden
- Ekel vor Krankheitserregern – Hierher gehört die Abscheu vor (infektiösen) Körperausscheidungen oder körperlichen Anzeichen von Krankheit: Fäkalien, Blut, Eiter, Erbrochenes, Mundgeruch u. ä.
- Ekel vor Sex oder speziellen sexuellen Praktiken – zum Beispiel Pornografie, Oral- oder Analsex
- Ekel vor dem Tod – insbesondere dem Kontakt mit Kadavern oder Leichen
- Ekel vor moralischen Verstößen – der Widerwille gegen die Verletzung kultureller und moralischer Normen
Gemeinsam ist allen Formen, dass sie die Person vor unerwünschten oder gefährlichen Eindringlingen von außen schützen – entweder auf der physischen oder auf der mentalen Ebene. Das biochemische Immunsystem wird durch eine emotionale Immunabwehr ergänzt.
Evolutionspsychologen vermuten, dass die früheste Form der nahrungsbezogene Ekel ist und dass die anderen Formen von ihm ausgegangen sind: Der ursprüngliche Abwehrmechansimus erwies sich im Laufe der kulturellen Entwicklung des Menschen auch in anderen Bereichen als Selektionsvorteil und hat sich auf soziale und moralische Ekelauslöser ausgeweitet. Man nennt dieses Phänomen Exaption. Für diese Theorie spricht, dass die Abscheu vor verwerflichen Haltungen und Handlungen die gleichen Bereiche im Gehirn aktiviert wie andere Ekelformen.
„Ein Mann, der seine eigenen Eltern betrügt oder Kinder zu Sexsklaven macht, erscheint wie ein Monster, dem grundlegende menschliche Empfindungen fehlen. Solche Handlungen empören uns und lösen die gleichen physiologischen Ekelreaktionen aus wie das Beobachten von Ratten, die aus einem Abfalleimer huschen.“ (Jonathan Haidt)
Der Ekel bewahrt Menschen nicht allein vor Krankheiten, sondern auch vor anstößigen Gedanken und lasterhaftem Verhalten. In Kulturen und Religionen, die den Körper als Sitz der Seele verehren, spielt Ekel deshalb eine große Rolle (vgl. dazu Jonathan Haidt: The Righteous Mind).
Ekel ist eine mächtige Emotion
Ekelgefühle können äußerst intensiv sein. In faszinierenden Experimenten konnte der Psychologe Paul Rozin zeigen, dass sich eine starke emotionale Abneigung kaum überwinden lässt. Würden Sie einen Saft trinken, in dem zuvor eine Kakerlake gelegen hat? Die meisten der Probanden lehnten das ab – selbst dann, wenn man ihnen versicherte, dass das Insekt steril gewesen sei. Ebenso wollten sie sich nicht darauf einlassen, eine hochwertige Schokolade zu essen, wenn diese ihnen in der Form von Hundekot angeboten wurde. Fragte man die Leute nach dem Grund, gerieten sie in Erklärungsnot, denn rational lassen sich diese Abwehrreaktionen nur schwer rechtfertigen.

Experiment von Paul Rozin: Die meisten Probanden rührten einen Saft, in dem zuvor eine Kakerlake gelegen hatte, nicht an – selbst wenn ihnen versichert wurde, dass diese steril sei. (Quelle: Paul Rozin – Oxford Symposium on Food & Cookery)
Was auch nur entfernt so aussieht wie etwas Ansteckendes oder einmal mit etwas Abscheulichem in Berührung war, wird als ungenießbar zurückgewiesen – auch wider besseren Wissens. Die Befürchtung, „kontaminiert“ zu werden, beschränkt sich dabei nicht auf biologische Gefahrenquellen, sondern erstreckt sich auch auf moralisch abstoßende Dinge oder Personen: Die Mehrzahl der Versuchsteilnehmer mochte sich nur ungern vorstellen, das Auto eines Mörders zu fahren oder einen chemisch gereinigten und desinfizierten (!) Pullover von Adolf Hitler aufzutragen.
Ekel als Protest gegen die Sterblichkeit
Besonders eklig finden Menschen oft diejenigen Dinge, die die Grenze zwischen der menschlichen und der tierischen Natur verwischen und die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier hervorheben: Essen, Ausscheiden, Sex, Verletzung, Tod und Verwesung. Einige Wissenschaftler vermuten hier den Kern dessen, was hinter der Emotion steckt: Ekelerregende Dinge sind bedrohlich, weil sie uns die eigene Vergänglichkeit vor Augen führen.
„Viele biologische Dinge und Vorgänge lösen Ekelgefühle aus, weil sie mit unserer animalischen Natur und – wiederum dadurch – mit unserer endgültigen Sterblichkeit in Verbindung stehen.“ (Cox et al.)
Ekel kann als psychologischer Abwehrmechanismus verstanden werden, der uns davor bewahrt, unsere tierische Natur und unsere eigene Sterblichkeit anzuerkennen. Er hält uns davon ab, zu sehr an Tod und Verwesung erinnert zu werden. Wir wenden uns angewidert ab, statt den Tatsachen ins Auge sehen zu müssen.

Verwesung – Dinge und biologische Vorgänge, die an die eigene Vergänglichkeit erinnern, rufen bei vielen Menschen besonders starken Ekel hervor.
Cathy Cox und Jamie Goldenberg bestätigten durch empirische Studien, dass Ekel und Todesangst eng zusammenhängen. Erinnerten sie ihre Probanden ans Sterben, reagierten diese empfindlicher auf Ekelauslöser. Zum Beispiel zogen sie einen Essay vor, der die Einzigartigkeit des Menschen gegenüber Tieren betonte. Einen Text über Darwins Evolutionslehre fanden sie wenig prickelnd.
Auch Nicholas Kelley und seine Kollegen beobachteten, dass ekelsensible Menschen extremer auf Vorkommnisse reagieren, die mit dem Tod zusammenhängen. In ihren Untersuchungen bemühten sich diese Personen stärker, Gedanken an den Tod zu vermeiden. Ihre Strategie dabei: das eigene Weltbild auf keinen Fall anzweifeln und sich ein möglichst rosiges Bild der Zukunft ausmalen.
Eine „persönliche Apokalypse“ nennt der britische Philosoph Stephen Cave unser Wissen darum, dass wir eines Tages sterben werden. Der Ekel hilft offenbar dabei, diese Apokalypse auf Abstand zu halten. Ekel ist – in diesem Sinne – emotionaler Protest gegen den (eigenen) Tod.
Fragebogen zur Erfassung der Ekelempfindlichkeit
Mit diesem Fragebogen von Anne Schienle können Sie sich selber ausprobieren: Fragebogen zur Erfassung der Ekelempfindlichkeit
Schienle, A., Walter, B., Stark, R., & Vaitl, D. (2002). Ein Fragebogen zur Erfassung der Ekelempfindlichkeit (FEE). Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie: Forschung und Praxis, 31(2), 110-120. doi:10.1026//1616-3443.31.2.110
Literatur und Quellen
Cox, C. R., Goldenberg, J. L., Pyszczynski, T., & Weise, D. (2007). Disgust, creatureliness and the accessibility of death-related thoughts. European Journal Of Social Psychology, 37(3), 494-507.
Eickmeier, K., Hoffmann, L., & Banse, R. (2017). The 5-Factor Disgust Scale: Development and Validation of a Comprehensive Measure of Disgust Propensity. European Journal Of Psychological Assessment, doi:10.1027/1015-5759/a000401
Haidt, J. (2012). The righteous mind: Why good people are divided by politics and religion. New York, NY, US: Pantheon/Random House.
Herz, R. (2012). That’s disgusting: Unraveling the mysteries of repulsion. New York, NY, US: W W Norton & Co.
Kelley, N. J., Crowell, A. L., Tang, D., Harmon-Jones, E., & Schmeichel, B. J. (2015). Disgust sensitivity predicts defensive responding to mortality salience. Emotion, 15(5), 590-602. doi:10.1037/a0038915
Rozin, P., Haidt, J., & McCauley, C. R. (2008). Disgust. In M. Lewis, J. M. Haviland, M. Lewis, J. M. Haviland (Eds.) , Handbook of emotions (pp. 757-776). New York, NY, US: Guilford Press.
Tybur, J. M., Lieberman, D., Kurzban, R., & DeScioli, P. (2013). Disgust: Evolved function and structure. Psychological Review, 120, 65–84. doi: 10.1037/a0030778
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