Tiffany Watt Smith: Das Buch der Gefühle
NGINYIWARRARRINGU – ein Wort, das auf den ersten Blick eher wie ein Tippfehler anmutet, bezeichnet eine von fünfzehn Formen der Furcht, die der australische Stamm der Pintupi kennt. Und es ist eines der 154 Gefühle aus aller Welt, die Tiffany Watt Smith, Kulturwissenschaftlerin am Centre for the History of the Emotions in London, für ihre kleine Enzyklopädie der Emotionen zusammengetragen hat.
Watt Smith möchte ihre Leserschaft mit kulturellen Nuancen und Besonderheiten des Gefühlserlebens bekannt machen. Neben den üblichen Verdächtigen – als da wären: ANGST, EKEL, WUT, TRAUER und FREUDE – finden sich in ihrer originellen Sammlung daher auch Emotionen, die man in den einschlägigen psychologischen Lehrbüchern vergeblich sucht: das FREMDSCHÄMEN, das MUFFENSAUSEN oder die MORBIDE NEUGIER sowie zahlreiche emotionale Zustände, von denen man hierzulande noch nie gehört hat – und die gerade deshalb umso spannender sind. Als „deutsche“ Gefühle haben es die SCHADENFREUDE, die TORSCHLUSSPANIK und die WANDERLUST in das Buch geschafft.
Die Forschung der Wissenschaftlerin kreist um die Frage, wie die Kultur unsere Gefühle formt und wie sich Gefühle im Kontext verschiedener Gesellschaften verändern – abhängig von Werten und Glaubenssystemen, wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Vorstellungen. „Emotionen sind keine einfachen Reflexe, sondern enorm komplexe, dehnbare Systeme, die auf beides ansprechen: die Biologie, die wir geerbt haben, und die Kultur, in der wir jetzt leben“, erklärt Watt Smith. Diesen Standpunkt teilt sie mit konstruktionistischen Emotionsforscher/innen wie Lisa Feldman Barrett (vgl. How Emotions Are Made), die eine Beschränkung auf wenige angeborene Basisemotionen für überholt erklären und den sozialen und sprachlichen Einfluss auf die Entstehung von Emotionen betonen.
Watt Smith zeigt mit ihrem Buch, dass selbst Emotionen, deren Bedeutung wir selten hinterfragen, ihren gesellschaftlichen Stellenwert über die Zeit stark verändert haben. Ein Beispiel: Während heute in Europa vor allem Glücksratgeber gefragt sind, war es im England des 16. Jahrhunderts offenbar Mode, sich im Trübsinn zu üben. Es erschienen ganze Abhandlungen zum Traurigsein, um die Leser auf zukünftigen Kummer einzustimmen. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, dass solche düsteren Anleitungen zur „Selbsthilfe“ tatsächlich gelesen wurden!
Kurzvortrag der Autorin über die Geschichte der menschlichen Emotionen (derzeit noch ohne deutsche Untertitel)
Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil: Tiffany Watt Smith geht es nicht um eine umfassende und lückenlose Systematisierung von Gefühlen. Das Buch der Gefühle ist vielmehr eine Einladung an jeden Einzelnen, sich auf die emotionale Vielfalt unterschiedlicher Kulturen einzulassen und diejenigen Emotionen für sich herauszupicken, die die eigene Gefühlswelt (oder das Nachdenken darüber) am meisten bereichern.
Vermutlich wird jeder in der Sammlung sein eigenes neues Lieblingsgefühl entdecken – zumal, wenn er es selbst schon erlebt hat, bisher aber kein griffiges Wort dafür parat hatte. Mein favorisierter Kandidat für eine Eingemeindung: das mikronesische FAGO. Was das ist? Lassen Sie sich überraschen!
The History of Emotions Blog – Interdisziplinärer Blog des Queen Mary Centre for the History of the Emotions in London
Wer sich für eine stärker psychologisch ausgerichtete, systematische Analyse von Emotionsbegriffen interessiert, sollte sich die umfassende Analyse ansehen, die Johnny Fontaine, Klaus Scherer und Cristina Soriano herausgegeben haben:
Components of emotional meaning (Oxford University Press)
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