Die Psychologie der Emotionen

Was ist eine Emotion?

„Das Ziel der Psychologie besteht darin, uns von den Dingen, die wir am besten kennen, eine ganz neue Vorstellung zu geben“, meinte der französische Philosoph Paul Valéry. Auf Emotionen trifft das in vielerlei Hinsicht zu. Schon Vierjährige können Gefühle wie Freude, Ärger und Trauer benennen und unterscheiden. Wissenschaftler jedoch haben bis heute keine klare und einheitliche Vorstellung, was eine Emotion ist. Klingt widersprüchlich? Ist es nicht (mehr), wenn man sich eingehender mit der Thematik beschäftigt.

Das Emotionen-Paradox

In der Alltagssprache haben wir Wörter, mit denen wir unser Innerstes, unsere „Gefühlswelt“, beschreiben und anderen mitteilen können. Es mag Momente geben, in denen wir nicht genau wissen, wie wir unsere Gefühle einordnen sollen. In der Regel ist es jedoch ein Leichtes zu sagen, dass uns etwas Freude macht, dass wir Angst vor etwas haben, dass wir wütend, traurig oder neidisch sind. Diese feststehenden Begriffe erwecken den Eindruck, es gäbe klar voneinander abgegrenzte emotionale Zustände, eine Art natürlichen Emotionen-Baukasten, den alle Menschen besitzen und der uns von Geburt an gegeben ist.

Auch viele Psychologen gingen zunächst davon aus, dass es ein endliches Set von Emotionen gibt, und machten sich daran, diese aufzuspüren. Einen viel versprechenden Ansatz legte der Emotionsforscher Paul Ekman in den 60er und 70er Jahren vor. Seine bahnbrechende Erkenntnis: Es gibt emotionale Gesichtsausdrücke, die überall auf der Welt, unabhängig von kulturellen Eigenheiten, gezeigt und von den Mitmenschen erkannt werden – Ärger, Ekel, Angst, Freude, Trauer und Überraschung. Ein starkes Indiz dafür, dass sich bestimmte Emotionen im Laufe der Evolution herausgebildet haben, weil der Mensch einen Überlebensvorteil durch sie hatte.

Inspiriert durch solche Forschungsergebnisse versuchten später Neuropsychologen die Orte im Gehirn zu finden, an denen diese Emotionen „stattfinden“. Hier hat sich Jaak Panksepp, Begründer der affektiven Neurowissenschaft, einen Namen gemacht. Er fand Schaltkreise im Gehirn, die daran beteiligt sind, dass Gefühle wie Wut, Angst oder Freude entstehen.

Ein Großteil der bisherigen psychologischen Forschung basiert bis heute auf der Annahme, dass es sogenannte Basisemotionen gibt, die auf natürliche Weise in der Biologie des Menschen verankert sind. Reize aus der Umwelt setzen dieser Sichtweise nach bei allen Menschen die gleichen emotionalen Prozesse und ähnliche Verhaltensmuster in Gang. Emotionen lassen sich, so meinen die Verfechter des Konzeptes, durch physiologische Messungen im Körper und im Gehirn klar voneinander abgrenzen.

Ist das Rätsel um die Emotionen damit bereits gelöst? Keineswegs. Es gibt ernsthafte Zweifel, dass Gefühle, für die wir in unserer Sprache ein Wort haben, eine physiologische Entsprechung haben, die für alle Menschen gleich ist. Egal welche Herangehensweise man wählt, um Empfindungen sinnvoll einzuteilen – Gesichtsausdrücke, Erregungsmuster im vegetativen Nervensystem, Verhaltensreaktionen, Selbstberichte von Personen, beteiligte Hirnstrukturen – die verschiedenen Blickwinkel laufen oft nicht auf die eine präzise und trennscharfe Beschreibung einer Emotion hinaus. Wir lächeln, wenn wir uns freuen – aber auch, wenn wir verlegen sind. Die Amygdala ist als Angstzentrum des Gehirns bekannt – oder reagiert sie generell bei neuen und unerwarteten Reizen von außen? Menschen erstarren vor Angst – andere ergreifen die Flucht. Die Beobachtungen und Messungen wollen einfach nicht recht zusammenpassen.

Lisa Feldman Barrett, Leiterin des Interdisciplinary Affective Science Laboratory, spricht von einem Emotionen-Paradox: „Die eigene Erfahrung veranlasst Menschen zu glauben, dass Emotionen natürliche Einheiten sind, aber ein Jahrhundert Forschung hat keine überzeugenden Belege für diesen Glauben erbracht.“

Psychologische Konstruktion von Emotionen

Barrett verfolgt einen anderen Ansatz, um das Entstehen von Emotionen zu erklären. Emotionen sind aus ihrer Sicht nicht von Natur aus gegeben, sondern werden nach und nach als Inhalte des Bewusstseins konstruiert von jedem Einzelnen anders und abhängig von der jeweiligen Situation, der man sich anpassen muss. Emotionen basierten zwar auf affektiven Grundfunktionen, die angeboren sind, ihre vielfältigen Ausprägungen kämen aber erst durch die Interaktion mit der Umwelt und die mentale Einteilung der Welt in (sprachliche) Begriffe und Kategorien zustande.

Wie darf man sich diese subjektive Konstruktion von Emotionen vorstellen? Die Psychologin nimmt an, dass bei der allmählichen Differenzierung von Emotionen ähnliche Mechanismen ablaufen wie beim Farbensehen. Dazu muss mann sich klar machen: Farbe ist keine Eigenschaft des Lichts. Auf unsere Netzhaut treffen nur Lichtstrahlen unterschiedlicher Wellenlänge. Erst unser Gehirn bündelt bestimmte Wellenlängen zu Einheiten und versieht sie mit einem Farbstempel.  Wir haben gelernt, dass „Blau“ in unserer Kultur für Wellenlängen um 450 Nanometer verwendet wird. Dieses Vorwissen über das  Konzept „Blau“ machen wir uns bei der Interpretation von Farben zunutze. Die Wellenlängen bekommen eine Bedeutung für uns. Über die Zeit wird das Konzept reichhaltiger und granularer – sei es, dass wir Nuancen (Marineblau, Indigo) zu unterscheiden lernen oder sich typische blaue Objekte (Himmel, Meer, Tauben) zum Farbkonzept dazugesellen.

Das Gehirn generiert, von uns unbemerkt, etliche solcher Bedeutungskonzepte und passt sie laufend an neue Begebenheiten an. Ohne diese erfahrungsbasierten Konzepte in unserem Gedächtnis wären wir im Hier und Jetzt orientierungslos. Auch Emotionen entstehen laut Barrett in solchen „konzeptuellen Akten“ (conceptual acts). Menschen teilten sich zwar mit anderen Säugetieren ein einfaches biologisches Basissystem, das positive und negative Erregung unterschiedlicher Intensität auslöst (core affect). Erst im Zusammenspiel mit dem konzeptuellen Wissen über Emotionen entstünden aber die Emotionskategorien, die wir als Angst, Ekel, Eifersucht, Zorn usw. bezeichnen. „Emotionen sind Inhalte, nicht Systeme im Gehirn“, resümiert Barrett. So betrachtet sind Emotionen nicht so verschieden von anderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen, wie man zunächst annehmen könnte.

Da das konzeptuelle Wissen sich durch Erfahrung entwickelt, sind  Emotionen subjektiv und fallen von Person zu Person anders aus. Menschen, die „Angst“ haben, empfinden nicht das Gleiche und verhalten sich nicht genauso wie andere, die „Angst“ haben. Unsere alltagssprachlichen Wörter bezeichnen prototypische emotionale Episoden, die die Menschen auf Basis ihrer gemeinsamen Erfahrungen teilen. Das heißt aber nicht, dass Angst gleich Angst oder Freude gleich Freude ist. Das Emotionen-Repertoire von Personen kann zudem mehr oder weniger facettenreich sein: Während diejenigen mit hoher Emotionaler Intelligenz ihre Emotionen genau und nuanciert beschreiben können (verzweifelt, besorgt, erschrocken, einsam, begeistert, feindselig, hoffnungsfroh, beschämt usw.), fassen andere ihre Gefühle nur in breite Kategorien (gut, schlecht). Es gibt sogar Menschen, die gar nicht in der Lage sind, Emotionen zu identifizieren. Man nennt dieses seltene Phänomen Alexithymie.

Komponenten einer Emotion

Die wissenschaftliche Debatte, welche Theorie am besten erklärt, was Emotionen ausmacht, hält an. Zu guter Letzt aber noch einige Erkenntnisse über Emotionen, die unter Wissenschaftler/-innen weitgehend unstrittig sind.

Nehmen wir Eifersucht als ein Beispiel für eine Emotion, die intensiv sein kann. Eine typische eifersüchtige Episode könnte wie folgt ablaufen: Sie kommen müde und erschöpft von der Arbeit zurück – und erwischen Ihre Frau/Ihren Mann mit einem Rivalen im Bett. Ihre Müdigkeit ist wie weggeblasen. Ihr Blutdruck steigt, der Adrenalinpegel schnellt nach oben. Sie sind spürbar erregt. Sie empfinden Eifersucht, sind rasend vor Wut auf Ihren Partner und/oder den Konkurrenten. Die Wut steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie sind kampfbereit. Nichts ist Ihnen wichtiger, als dieses Intermezzo zu beenden, diesem unerträglichen Anblick ein Ende zu machen…

Es bleibt Ihnen überlassen, sich einen passenden Ausgang für die Episode auszumalen. Hier geht es vielmehr um die Frage: Welche typischen Komponenten einer Emotion lassen sich an dem Beispiel ablesen?

  • Emotionen haben, anders als länger anhaltende Stimmungen, einen konkreten Anlass. Sie werden ausgelöst, wenn etwas geschieht, das für den Organismus bedeutsam ist, das mit seinem Wohlbefinden, seinen Zielen oder Bedürfnissen zusammenhängt. In unserem Beispiel ist der Anlass offensichtlich: Der Partner wird in flagranti ertappt. Die exklusive intime Beziehung wird in Frage gestellt.
  • Die Emotion hat eine Valenz. Freude, Zufriedenheit oder Erleichterung werden als angenehm empfunden (positive Valenz). Trauer, Angst oder Verzweiflung werden als unangenehm wahrgenommen (negative Valenz). Die Eifersucht aus unserem Beispiel gehört zweifelsohne zu den Emotionen mit negativer Valenz.
  • Emotionen lassen sich nach dem Grad der Erregung unterscheiden. Der Organismus ist je nach Emotion unterschiedlich stark aktiviert. In unserem Beispiel wechselt der Erregungsgrad von Müdigkeit (geringe Erregung) zu rasender Eifersucht (hohe Erregung).
  • Es kommt zu physiologischen Änderungen im Körper und im Gehirn, die eine Verhaltensänderung vorbereiten. Diese Veränderungen können spürbar sein (man schwitzt, atmet schneller o. ä.) oder unbemerkt bleiben (Neurone im Gehirn feuern stärker). Prinzipiell sind sie aber messbar. In unserem Beispiel steigt der Blutdruck und das Hormon Adrenalin wird vermehrt ausgeschüttet.
  • Das subjektive Erleben der Person verändert sich: ein Gefühl wird ihr bewusst. In der Philosophie des Geistes wird dieses subjektive Erleben als Qualia bezeichnet. Vereinfacht gesprochen geht es darum, wie sich die Emotion für die Person „anfühlt“. In der oben beschriebenen Situation fühlen Sie sich eifersüchtig, vielleicht auch wütend, traurig oder enttäuscht. Das Exempel zeigt, wie schwer es ist, solche Gefühle klar voneinander abzugrenzen.
  • Die Emotion motiviert eine Verhaltensänderung. Konkurrierende Ziele und Bedürfnisse werden zurückgestellt und die Aufmerksamkeit wird auf das Emotionen auslösende Ereignis und dessen Bewältigung konzentriert. Während Sie sich eigentlich gerade schlafen legen wollten, steigt nun die Bereitschaft, den Rivalen aus dem Haus zu jagen.
  • Manchmal können Außenstehende an der Mimik oder an der Körperhaltung erkennen, wie sich die Person fühlt. Emotionen spielen dann auch für die zwischenmenschliche Kommunikation eine wichtige Rolle. In unserer Beispielsituation wird es den beiden Turteltäubchen nicht entgegehen, dass Sie wenig erfreut über deren Darbietung sind!

Alles zusammen genommen erfüllen Emotionen wichtige Funktionen für uns: Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf Bedingungen in unserem Umfeld, die entscheidend für unser Wohlergehen sind. Sie sorgen dafür, dass wir auf Chancen und Bedrohungen angemessen reagieren. Über die individuelle Ebene hinaus haben sie eine regulierende Funktion für das soziale Miteinander.

Diese Aufzählung von Komponenten, die eine Emotion kennzeichnen, ist zwar weit entfernt von einer klaren Definition. Als Gerüst für die Beschäftigung mit Emotionen ist sie aber durchaus brauchbar.


Mehr über einzelne Emotionen – oder sagen wir besser: „prototypische emotionale Episoden“ – finden Sie in der Kategorie Emotionen.


Literatur:

Barrett, L. F. (2006). Solving the Emotion Paradox: Categorization and the Experience of Emotion. Personality & Social Psychology Review (Lawrence Erlbaum Associates), 10(1), 20-46.

Barrett, L. F. (2006). Are emotions natural kinds?. Perspectives On Psychological Science, 1(1), 28-58. doi:10.1111/j.1745-6916.2006.00003.x

Barrett, L. F., & Russell, J. A. (2015). The psychological construction of emotion. New York, NY, US: Guilford Press.

Ekman, P. (2010). Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag

Frijda, N. H. (2008). The psychologists‘ point of view. In M. Lewis, J. M. Haviland-Jones, L. F. Barrett, M. Lewis, J. M. Haviland-Jones, L. F. Barrett (Eds.) , Handbook of emotions, 3rd ed (pp. 68-87). New York, NY, US: Guilford Press.

Panksepp, J. (1998). Affective Neuroscience. The foundations of human and animal emotions. New York: Oxford University Press

Sander, D., & Scherer, K. R. (2009). The Oxford companion to emotion and the affective sciences. New York, NY, US: Oxford University Press

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